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Zukunftswerkstatt Informatik & Gesellschaft: Workshop des FB an der Informatik 2023

Vision einer Werte-basierten Partizipation: Ein Erfahrungsbericht aus der Zukunftswerkstatt zur Debatte der deutschen Atommüllendlagersuche

Peter Sörries, Freie Universität Berlin
Paula Bräuner, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Claudia Müller-Birn, Freie Universität Berlin

Eine lebendige Demokratie kann nur dann gelingen, wenn wir es schaffen, viele Menschen partizipativ an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen, damit sie diese Entscheidungsprozesse nachvollziehen und mitgestalten können. Heute erfolgt Partizipation jedoch vielfach über digitale Plattformen. Darüber ergeben sich eine Reihe von Herausforderungen für Informatiker:innen in der Gestaltung ebendieser Plattformen, welche nicht nur dazu dienen, entsprechende Interessengruppen zusammenzuführen oder Mehrheiten zu erzeugen, sondern auch Informationen zu vermitteln. Welche Herausforderungen sind aber mit der Gestaltung solcher Plattformen verbunden? Was ist, wenn diese Plattformen vor allem von einer digitalen Elite genutzt werden und bestimmte Bevölkerungsgruppen bewusst oder unbewusst ausgeschlossen werden? Wie kann die partizipative Gestaltung helfen, diese Plattformen so zu designen, dass eine Teilhabe für alle Bevölkerungsgruppen möglich ist? Welche Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein?

Im Rahmen der Zukunftswerkstatt zur INFORMATIK 2023 haben wir einen interaktiven Workshop durchgeführt. Zukunftswerkstätten dienen als partizipative Plattformen, in denen Menschen unterschiedlicher Hintergründe, Meinungen und Fähigkeiten zusammenkommen, um aktiv an der Gestaltung ihrer gemeinsamen Zukunft teilzuhaben (u. a. nach Jungk, R., & Müllert, N. R. (1970). Zukunftswerkstätten: Mit Phantasie gegen Routine und Resignation. Heyne). In diesem interaktiven Workshop setzten wir uns mit der Atommüllendlagersuche auseinander, die nach wie vor in Deutschland von starkem Konfliktpotenzial geprägt ist. Mit der Einführung des Endlagersuchgesetzes im Jahr 2017 wurde ein partizipativer Ansatz für die Suche nach einem bestmöglichen Standort für die bestehenden hochradioaktiven Abfälle in Deutschland beschlossen. Doch bisher ist Partizipation der breiten Bevölkerung in diesem demokratischen Prozess eher verhalten. In dem von uns durchgeführten interaktiven Workshops, reflektierten wir daher, welche Werte die Teilnehmenden aus Wissenschaft und Praxis mit der Endlagersuche verbinden und wie sich diese Werte auf die Gestaltung zukünftiger Beteiligungsplattformen zur Aufklärung bezüglich der Endlagersuche übertragen lassen.

Das Ziel dieses interaktiven Workshops bestand darin, den Aufklärungsprozess zur Endlagersuche auf eine werteorientierte Weise zu konzeptualisieren und neue Impulse in die Endlager-Debatte einzubringen. Werte können als Leitprinzipien betrachtet werden, die von Menschen als erstrebenswert oder wertvoll erachtet werden und über spezifische Situationen hinaus für das soziale und gesellschaftliche Leben von Bedeutung sind. Um diese Werte aus Sicht der Bürger:innen systematisch zu erfassen, haben die Teilnehmenden in vier aufeinander aufbauenden Phasen Werte erkundet, systematisiert, übersetzt und reflektiert.

In der ersten Phase erhielten die Teilnehmenden Rollenprofile von fiktiven Bürger:innen mit unterschiedlichen soziodemografischen Hintergründen, Motivationen und Lebenszielen, um aus ihren eigenen Expertisen und Perspektiven herauszutreten. Ausgehend von diesen Rollenprofilen erkundeten die Teilnehmenden Werte im Zusammenhang mit der Endlagersuche. Das Ergebnis dieser Phase war eine individuelle Liste von Werten, die in der zweiten Phase auf einer sogenannten Werte-Karte systematisiert wurden (siehe Abb. 1).

Bild einer erstellten Werte-KarteBild einer erstellten Werte-Karte

Abbildung 1 (Bildrechte: Sörries, Peter): Werte-Karten auf denen die Teilnehmenden unter Berücksichtigung ihres Rollenprofils gemeinsam ihre Werte bestimmten Interessengruppen zugeordnet haben.

Hierbei wurden die Werte Interessengruppen im Kontext der Endlagersuche zugeordnet, um Verantwortlichkeiten und Konfliktpotenziale auf Grundlage der Werte zu identifizieren. Auf Basis der Werte-Karte entwickelten die Teilnehmenden in der dritten Phase sogenannte Werte-Szenarien, um eine ideale Beteiligungsplattform zur Aufklärung über die Endlagersuche zu imaginieren (siehe Abb. 2).

Bild eines erstellten Werte-SzenariosBild eines erstellten Werte-Szenarios

Abbildung 2 (Bildrechte: Sörries, Peter): Werte-Szenarien in denen die Teilnehmenden eine ideale partizipative Beteiligungsplattform aus der Sicht ihres Rollenprofils materialisiert haben.

Diese Szenarien können kurze Beschreibungen, Skizzen oder eine Kombination aus beidem sein, um unterschiedliche Perspektiven und Interaktionen zwischen den Interessengruppen darzustellen. In der letzten Phase präsentierten die Teilnehmenden ihre Werte-Szenarien und reflektierten kritisch Möglichkeiten und Hindernisse bei der Umsetzung neuer partizipativer Beteiligungsplattformen.

In der abschließenden Gruppendiskussion stellten wir fest, dass die Rollenprofile es den Teilnehmenden ermöglichten, unterschiedliche Positionen einzunehmen sowie neue Standpunkte und Einstellungen zu entwickeln. Zudem entwarfen sie vielfältige und miteinander vernetzte Partizipationsräume, die sowohl online, offline als auch hybrid umgesetzt werden könnten. Ein wesentlicher Aspekt dieser Räume bestand darin, dass neutrale Stellen als Informationsvermittler zwischen den verschiedenen Gruppen wie Mitgliedern einer Gemeinde oder Politik fungieren und beispielsweise Wissen von Expert:innen einbringen könnten. Es wurde debattiert, dass die gegenwärtigen partizipativen Ansätze eher Orte des Austauschs als der politischen Mitbestimmung sind. Dies führte zu der Überlegung, nach Narrativen zu suchen, die dabei helfen neuartige partizipative Beteiligungsformate zu schaffen, um eine „echte“ Beteiligung und Aufklärung von Bürger:innen zu erreichen.

Die Diskussionen im Rahmen des interaktiven Workshops sollen als Anstoß dienen, die Notwendigkeit von systematischen und weitreichenden partizipativen Beteiligungsstrukturen in politischen Entscheidungsprozessen vermitteln. Weitere Informationen zur Methode des interaktiven Workshops zur Ermittlung von Werten finden Sie in unseren Publikationen.


Publikationen zur Methode des partizipativen werteorientierten Workshops:

  • Peter Sörries, Daniel Franzen, Markus Sperl, and Claudia Müller-Birn. 2023. Foregrounding Values through Public Participation: Eliciting Values of Citizens in the Context of Mobility Data Donation. In Mensch und Computer 2023 (MuC ’23), September 3–6, 2023, Rapperswil, Switzerland. ACM, New York, NY, USA, 11 pages. https://doi.org/10.1145/3603555.3608531.

  • Peter Sörries, David Leimstädtner, Markus Sperl, Claudia Müller-Birn. 2023. Endorsing Values through Participation: Facilitating Workshops for Participatory Value Elicitation in Two Different Contexts to Inform Sociotechnical Designs. In Mensch und Computer 2023 (MuC ’23) – Workshopband, September 3–6, 2023, Rapperswil, Switzerland. https://doi.org/10.18420/muc2023-mci-ws02-412.

  • David Leimstädtner, Peter Sörries, and Claudia Müller-Birn. 2022. Unfolding Values through Systematic Guidance: Conducting a Value-Centered Participatory Workshop for a Patient-Oriented Data Donation. In Mensch und Computer 2022 (MuC ’22), September 4–7, 2022, Darmstadt, Germany. ACM, New York, NY, USA, 9 pages. https://doi.org/10.1145/3543758.3547560.

  • Claudia Müller-Birn, David Leimstädtner, Peter Sörries. 2022. Taking a Value Perspective on Medical Data Donation Through Participatory Workshops. In Mensch und Computer 2022 (MuC ’22) – Workshopband, September 4–7, 2022, Darmstadt. https://doi.org/10.18420/muc2022-mci-ws02-235.